Kirsten Boie "Autoren dürfen nicht nur am Schreibtisch sitzen"

Anne Kraushaar

Mehr als 100 Kinder- und Jugendbücher hat Kirsten Boie schon geschrieben. Die Kinderreporterinnen Gina (11) und Marlene (10) haben erfahren, dass ihr manche Ideen an der roten Ampel einfallen.

Gina: Frau Boie, haben Sie schon als Kind Geschichten geschrieben?
Kirsten Boie: Ja, ich wollte schon als Kind Autorin werden, denn ich hatte schon damals immer viele Ideen. Meine erste Erzählung habe ich auf Butterbrotpapier geschrieben, sie hieß „Gisela bei den Tieren“. Darunter hatte ich auch schon die Fortsetzung zu dieser Geschichte angekündigt. Sie sollte „Gisela und der Brand“ heißen. Aber sie aufzuschreiben war mir dann wohl zu anstrengend – wie so oft damals.

Marlene: Aber dann sind Sie ja erst einmal Lehrerin geworden.
Kirsten Boie: Als Jugendliche ist mir bewusst geworden, dass man von der Schriftstellerei vielleicht nicht so gut leben kann. Also habe ich erst einmal einen anderen Beruf ergriffen und bin an die Schule gegangen. Aber als ich dann zwei Kinder adoptiert hatte und nach einiger Zeit wieder anfangen wollte zu arbeiten, hat mich das Jugendamt vor die Wahl gestellt: entweder die Kinder oder der Beruf.

Marlene: Und da haben Sie sich entschieden, Autorin zu werden?
Kirsten Boie: Zuerst war ich furchtbar wütend auf das Jugendamt. Aber dann habe ich mich erinnert, dass ich ja früher immer Autorin werden wollte, und habe mir gedacht, dass das doch ein Beruf wäre, den ich ausüben könnte, ohne dass mir das Jugendamt auf die Schliche kommt. Und so bin ich zum Schreiben gekommen. Heute empfinde ich es als großes Glück, Schriftstellerin sein zu dürfen.

Gina: Vermissen Sie den Lehrerberuf trotzdem manchmal?
Kirsten Boie: Ja. Bei Lesungen vor Schulklassen bekomme ich oft ein bisschen was von diesem Gefühl zurück, was es bedeutet, mit Kindern zu arbeiten. Aber als Lehrer siehst du die Kinder ja nicht nur einmal, sondern begleitest sie lange Zeit durch ihr Leben. Das vermisse ich schon.

Gina: Was inspiriert Sie zum Inhalt Ihrer Bücher?
Kirsten Boie: Das Leben! Bei manchen Büchern stammen die Ideen direkt aus meinem eigenen Leben. Die Geschichten um das Meerschweinchen King Kong etwa sind mir eingefallen, weil meine Kinder selbst Meerschweinchen hatten. Andere Ideen kommen mir, mit Astrid Lindgren gesprochen, „wie ein Ferkel blinzelt“. Die Geschichte zum Seeräubermoses ist mir etwa an einer roten Ampel eingefallen.

Gina: Aber diese Geschichte hat ja nicht direkt etwas mit Ihrem Leben zu tun, oder?
Kirsten Boie: Nein, das stimmt, ich habe die Seeräuber ja selbst nie erlebt. Aber die Art und Weise, wie ich die Personen und die Umgebung beschreibe, hat ganz viel damit zu tun. Wenn man als Autor immer nur an seinem Schreibtisch säße und kein eigenes Leben daneben hätte, wäre das nicht gut fürs Schreiben.

Marlene: Sind Ihnen die „Geschichten aus dem Möwenweg“ eingefallen, als Sie damals in einem Reihenhaus gewohnt haben?
Kirsten Boie: Ja. Ich habe meiner Tochter früher immer aus den „Kindern aus Bullerbü“ vorgelesen. Da gibt es ja eine Stelle, in der die Erzählerin sagt: „Mir tun alle Kinder leid, die nicht bei uns wohnen können“. Da hat meine Tochter geseufzt und gesagt: „Und mir tun die Kinder leid, die nicht bei uns wohnen können.“ Nanu, habe ich da gedacht, was ist denn an unserem langweiligen Reihenhaus so toll? Aber dann habe ich begriffen, warum das für die Kinder schön war.

Marlene: Und damit war die Idee für den Möwenweg geboren?
Kirsten Boie: Ja. Ich wollte versuchen, so etwas wie Bullerbü zu schreiben, aber in der Gegenwart und ganz alltäglich, ohne niedliche rote Häuser. Viele Kinder machen sich heute manchmal gar nicht klar, dass ihr Alltag ziemlich toll ist und es gar nicht immer so besonderer Sachen bedarf, um sich ein schönes Leben zu machen.

Marlene: An welchem Ort schreiben Sie am liebsten?
Kirsten Boie: Ich habe ein schönes Arbeitszimmer unter dem Dach. Dort setze ich mich morgens immer gleich hin und beginne zu schreiben, egal ob ich Lust habe oder nicht. Andere Leute müssen ja auch morgens um acht ins Büro. Gerne schreibe ich aber auch in meinem Ferienhaus an der Schlei. Das ist ein Meeresarm an der Ostsee. Ein Großteil meines neuen Buches „Ein Sommer in Sommerby“ ist dort entstanden.

Gina: Als ich dieses Buch gelesen habe, hat mich das raue Wesen der Oma Inge beeindruckt. Warum haben Sie ihr so einen herzlosen Charakter gegeben?
Kirsten Boie: „Herzlos“ ist ja das Erste, was der Hauptfigur Marta einfällt, als sie ihre Oma Inge in den Sommerferien kennenlernt. Mir erscheint das aber zu streng. „Rau“ finde ich da viel passender. Die Oma Inge ist eine Frau, die schon oft vom Leben enttäuscht wurde. Sie lebt nicht auf großem Fuß und hat sich mit allen Menschen zerstritten. Dadurch ist sie härter geworden, aber auch stärker, denn sie hat ihr Leben ohne fremde Hilfe gemeistert. Vielleicht hat sie auch deshalb ein so gutes Gespür, wie viel man Kindern zutrauen kann. Sie können ja oft viel mehr, als man von ihnen erwartet.

Gina: Wie werden Sie denn eigentlich selbst Ihre Sommerferien verbringen?
Kirsten Boie: Ich werde ganz normal weiterarbeiten, aber das ist in den Sommerferien viel einfacher als sonst. Im Alltag ertrinke ich oft in E-Mail-Anfragen, in den Ferien nimmt das deutlich ab. Da sind alle unterwegs, und wer gerade nicht unterwegs ist, der arbeitet mit halber Kraft, weil er weiß: Die meisten anderen Büros sind auch leer. Das ist für mich eine tolle Zeit zum Schreiben.


Steckbrief: Kirsten Boie wurde 1950 in Hamburg geboren und ist eine der erfolgreichsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Ihre Themen sind ganz vielfältig: Da gibt es den kleinen Ritter Trenk, der seine Leser ins Mittelalter entführt, und den Seeräubermoses, der in Wahrheit ein Mädchen ist und eine Prinzessin noch dazu. Es gibt die Kinder aus dem Möwenweg, die in kleinen Momenten des Alltags große Augenblicke des Glücks finden, oder die Geschwister in „Ein Sommer in Sommerby“, die einen spannenden Urlaub an der Ostsee verbringen (siehe Besprechung auf der nächsten Seite). Auch über traurige Themen wie Mobbing, Depressionen und Obdachlosigkeit hat Boie geschrieben. Für ihre Bücher hat sie viele Preise erhalten.