Berliner Mauer Auf der Flucht

Susanne Suchy

1953 reist ein kleiner Junge aus Heidenau bei Dresden nach West-Berlin. Was nach einem Ausflug klingt, war damals ziemlich gefährlich. Wie tausende Menschen war Dieter Suchy mit seiner Familie auf der Flucht aus der DDR. Die Berliner Mauer, die vor genau 61 Jahren gebaut wurde, stand damals zwar noch nicht. Trotzdem brauchte die Familie Glück.

Am 17. Juni 1953 steht Dieter Suchy mit seinem Vater und einem befreundeten Ehepaar auf dem Bahnsteig in Heidenau bei Dresden. Er ist acht Jahre alt. In der Hand hält er einen kleinen Wasservogel aus Ton. Wenn er hinein pustet, kommen Zwitscherlaute heraus. Auch die anderen haben Musikinstrumente dabei. Sein Vater August einen Schüttelbaum, der Freund ein Akkordeon. Und jeder einen Koffer mit Kleidern. „Zum Glück hat uns niemand gefragt, ob wir etwas vorspielen können“, sagt Dieter Suchy. Nun, 69 Jahre später, kann er darüber lachen. „Keiner von uns konnte sein Instrument richtig spielen.“ Die kleine Gruppe hatte sich nur als Musikanten verkleidet, um aus der Deutschen Demokratischen Republik – so hieß damals der Staat im Osten Deutschlands – in den Westen, die Bundesrepublik Deutschland, zu fliehen. Anders als im Moment in der Ukraine flohen die Menschen damals nicht wegen eines Kriegs. „Wir wollten nicht mehr mit der Unterdrückung leben“, erinnert sich der nun 77-Jährige. Seine Familie wollte sich nicht von der Regierung ihr Leben vorschreiben lassen. Die Brüder – Dieter und Günter – sollten zum Beispiel frei einen Beruf wählen können.

Pech mit Zug und Schlüsselbein

Weil das und vieles andere nicht möglich ist, entscheidet sich die Familie zur Flucht. August Suchy und seine Frau Margarete planen alles genau. Sie verkaufen und verschenken ihre Möbel, Geschirr und viele andere Dinge. Am 17. Juni wollen sie die DDR für immer verlassen. Doch dann passiert etwas, mit dem niemand gerechnet hat: Dieters älterer Bruder Günter klettert auf einen Baum, stürzt und bricht sich das Schlüsselbein. Er kann nicht reisen. Und nun? Die Familie beschließt sich aufzuteilen. Dieter, August und das befreundete Ehepaar werden wie geplant fliehen. Margarete und Günter wollen später nachkommen. Doch auch die anderen haben kein Glück. Am Bahnhof erfahren sie, dass an diesem Tag keine Züge nach Berlin fahren. In der Hauptstadt gibt es einen Aufstand. Die Menschen demonstrieren gegen die neue Regierung, die ihnen das Leben schwer macht. Die Regierung befiehlt Soldaten, die Demonstration aufzulösen. Viele Menschen sterben dabei.

Mehr Glück

Die kleine Gruppe kehrt in ihre alten Wohnungen zurück. Ein paar Wochen später versuchen sie es nochmal. Günter ist noch nicht gesund. Margarete und er bleiben auch dieses Mal zurück. Wieder geht es mit Gepäck und Instrumenten zum Bahnhof. Dieses Mal fahren die Züge. Die Gruppe erreicht ohne Kontrolle Ost-Berlin. Nun kommt der gefährlichste Teil. Sie müssen über die Grenze nach West-Berlin. „Ich war aufgeregt und hatte ein bisschen Angst“, erzählt Dieter Suchy seinen Enkelkindern. Am Bahnhof findet die Gruppe einen Gepäckträger, der ihre Sachen zur S-Bahn bringt. „Damit niemandem auffällt, dass wir so viel Gepäck haben, gingen wir in großem Abstand hinterher.“ Sie schaffen es und steigen in die Bahn. Obwohl sie nur ein paar Minuten bis zum Ziel fahren müssen, kommt ihnen die Zeit wie eine Ewigkeit vor. Nach vier Stationen sagt der Zugführer durch den Lautsprecher: West-Berlin. Dieter und seine Begleiter schreien erleichtert auf. Schnell steigen sie aus. Sie haben es geschafft.

Von Berlin nach Trier

Ein paar Wochen bleiben sie in Berlin. Es ist eine schwierige Zeit. Sie haben wenig Geld. Trotzdem will August seinem Sohn eine Freude machen und schenkt ihm seinen ersten Fußball. Dieter Suchy strahlt, als er sich an diesen Moment erinnert. August nimmt Kontakt zu seinem ehemaligen Chef auf, der mittlerweile in Trier arbeitet. Er sorgt dafür, dass die Gruppe von Berlin nach Frankfurt fliegen kann. Von dort aus reisen sie nach Trier, finden ein Zimmer und Arbeit. Margarete Suchy will ihrer Familie von Heidenau aus helfen. Sie versucht Bettdecken zu schicken. Doch sie wird dabei erwischt und kommt ins Gefängnis. Ein paar Tage später wird sie freigelassen. Mittlerweile ist Günter fast gesund. Dieses Mal gelingt ihnen die Flucht. Mit Zug, S-Bahn und ohne Verkleidung schaffen es sie es bis nach West-Berlin. Etwas später kommen sie in Trier an. Die Familie ist wieder vereint.

Neue Heimat Schwarzwald

Es folgen vier harte Jahre. Das Geld reicht gerade für Lebensmittel, Kleidung und eine spärlich eingerichtete Wohnung. Außerdem hat Margarete gesundheitliche Probleme. Der Arzt empfiehlt ihr, im Schwarzwald in einem anderen Klima zu leben. Dort, in der Nähe von Rottweil, lebt Dieter Suchy immer noch. 1974 reist er zum ersten Mal wieder in die DDR. Diesmal als erwachsener Mann, mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Sie besuchen Verwandte. Dort leben möchte er damals wie heute nicht mehr.


Die DDR und was da los war

Wir reisen in das Jahr 1945. Deutschland hat den zweiten Weltkrieg verloren. Das Sagen haben jetzt die vier Siegermächte: Großbritannien, Frankreich, die USA und die Sowjetunion. Jede Siegermacht kontrolliert einen Teil Deutschlands und ein Stück der Hauptstadt Berlin. Sie streiten sich darüber, wie es mit Deutschland weitergehen soll. Die USA, Frankreich und Großbritannien wollen einen demokratischen Staat aufbauen, die Sowjetunion nicht. Weil sie sich nicht einigen können, entstehen zwei Staaten: im Westen die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und im Osten die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Auch Berlin wird geteilt. In der DDR bestimmt die Regierung alles. Etwa ob in einer Fabrik Porzellan, Autos oder Kekse produziert werden. Sie legt auch fest, was in der Zeitung steht, wer welchen Beruf hat und wohin man in den Urlaub fahren darf. Die Bürger dürfen nicht frei ihre Meinung sagen. Wer es doch tut, kann ins Gefängnis kommen. Viele Menschen wollen so nicht leben und gehen nach Westdeutschland. Zwischen 1945 und August 1961 verlassen fast drei Millionen Menschen die DDR. Die Regierung will unbedingt verhindern, dass noch mehr Menschen das Land verlassen. Sie lässt Straßen und Zugverbindungen sperren. Die Grenzen werden scharf bewacht und mitten durch Berlin wird eine Mauer gebaut. Ab dann ist es für viele Jahre fast unmöglich das Land zu verlassen.